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Innenseite der Schulreform (Buch)

Vorwort: Fritz Schütze

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 (Einleitung)

Kapitel 2 (Protokolle)

Kapitel 3 (Interviews)

Kapitel 4 (Aktualtext)

Kapitel 5 (Auswertung)

Literatur

Anhang (Datenkranz)

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Die Innenseite der Schulreform

Comenius-Schule 1993-2004 – Aktuelle Situation

Die Entwicklung der Comenius-Schule vom Untersuchungszeitraum bis zur Gegenwart ist dadurch bestimmt, dass sie von dem Niveau einer eigenständigen Weiterentwicklung wieder auf das Niveau der Abhängigkeit von den überkomplexen Strukturen des Systems der Schulverwaltung zurückgeführt wird. Das geschieht dadurch, dass sich die Schulleitung mit ihrem Anspruch, das Geschehen in der Hand zu behalten, wieder durchsetzen kann und von ihr zunehmend weniger Wert auf die eigene Lösungskompetenz der Lehrer(innen) gelegt wird. Die Arbeit an der Entwicklung der Schule wird immer stärker auf kleine Gremienzirkel reduziert. Die Diskussionen über die Veränderung der Schule auf Kollegiumsebene verebben somit und werden abgelöst von Verständigungsritualen mit der Schulleitung und den übrigen Lehrer(inne)n über die erzielten Errungenschaften im Schulbetrieb. Die Team-Arbeit wird dabei wieder eingeholt von den gewöhnlichen Problemen des Schulalltages (Antinomien, Paradoxien), die nun nicht mehr frühzeitig bearbeitet werden, sondern die sich durch die Verzögerungen zu Konflikten aufschaukeln. Die Handlungsentwürfe der Lehrer(innen) orientieren sich zunehmend an den abstrakten Vorgaben des Organisationsentwurfs Schule, wie er in den rechtlichen Verlautbarungen des Schulgesetzes und anderer Gesetze definiert wird. Störungen durch die Schüler(innen) werden nicht mehr als hilflose Demonstration ihrer Verständnisprobleme betrachtet, sondern als willentliche Regelübertretung innerhalb dieses Organisationsentwurfs Schule. Dieser Entwurf sei in jedem Falle – davon wird nun wieder ausgegangen – durch adäquate Einzelhandlungen von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n in die soziale Wirklichkeit umzusetzen. Es schleichen sich nun wieder verstärkt Feindbilder in die Deutungsrahmen von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n ein, die zur allmählichen Erosion der ursprünglichen Reformvorstellungen führen. Pädagogische Gesamtkonferenzen, die nur noch sehr selten stattfinden, werden von der Schulleitung als „Innehalten“ bei der Pflicht der täglichen Lehrer(innen)arbeit angesehen. Das Bewusstsein über den Sinn und Zweck der durchgeführten Reform des Team-Modells geht verloren. Die Schule droht durch das Verschwinden der Erinnerung an die Anfänge der Reform unter den Lehrer(inne)n auch jene Kultur der grundsätzlichen wechselseitigen Anerkennung, des Streits und der Kompromisse zu verlieren und bei der Gestaltung des Lehrer(innen)-Schüler(innen)-Verhältnisses in die chaotische Situation zu Beginn der 80er Jahre zurückzufallen.

Junge Lehrer(innen), die seit Beginn des neuen Jahrhunderts die in Pension gegangenen Lehrer(innen) ersetzen, haben keinerlei Vorstellung mehr von der Geschichte der Comenius-Schule. Sie neigen dazu, ihre Lage als Lehrer(innen) als permanente Auseinandersetzung mit Schüler(inne)n und zum Teil auch deren Eltern zu begreifen, bei der sie sich durchsetzen müssen und bei der ihnen niemand hilft. Es gibt kein allgemeines Bewusstsein von den gemachten Erfahrungen und somit auch keinerlei Systematisierung der Erinnerungen. Die Kluft zwischen den inzwischen älter gewordenen Lehrer(innen), welche die Geschichte der Schule miterlebt haben, und den neu hinzugekommenen jüngeren Lehrer(innen) lässt sich nur schwer überbrücken. Es wiederholt sich der von Huberman (1991) und Terhart u.a. (1994) untersuchte Generationenzyklus an Schulen, nur dass es sich nun mit der Konstellation der Auffassungen über die professionelle Tätigkeit inzwischen umgekehrt verhält. Nun sind es die jungen Lehrer(innen), welche sich problemlos in die neu entstandenen Strukturen einpassen, Veränderungen mit Skepsis sehen und an den ihnen bekannten Verhältnissen festhalten wollen. Zwar sind um die Jahrhundertwende 2000 herum zunächst einige Lehrer(innen) eingestellt worden, die bereits lange Zeit in vergleichbaren Einrichtungen der Erwachsenenbildung gearbeitet hatten, in etwa gleich alt sind und ähnliche Auffassungen haben wie der größte Teil der älteren Lehrer(innen), doch sind die danach eingestellten Lehrer(innen) wesentlich jünger und gehören einer anderen Generation an. In jüngster Zeit werden wie in den 70er Jahren wieder junge Zeitkräfte eingestellt, die ausfallende Lehrer(innen) kurzfristig ersetzen und danach wieder verschwinden. Sie können trotz eigener Bemühungen auf Grund ihrer undurchsichtigen Perspektive keine Bindungen zu den Schüler(inne)n aufbauen.

Die Förderung der Schüler(innen), auf die nach PISA verstärkt wieder Wert gelegt wird, bleibt vor dem Hintergrund einer durch den Generationswechsel geprägten Schule zerfasert wie in den 70er und den beginnenden 80er Jahren. Verschärfend wirken sich die neuerdings wieder verstärkt einsetzenden Sparbemühungen aus, die durch Mehrarbeit der Lehrer(innen) und dadurch möglich gewordene Stelleneinsparungen umgesetzt werden sollen. Auf diese Weise entstehen Stellenüberhänge, so dass wie zu Beginn der 80er Jahre mit Abordnungen von Lehrer(inne)n an andere Schulen zu rechnen ist. Solche Abordnungen werden von denen, die davon betroffen sind, als sozialer Eingriff zu ihren Ungunsten empfunden. Der Grund liegt darin, dass Schulen gewachsene Beziehungsgefüge sind, in denen jede(r) Lehrer(in) seinen/ihren festen Platz hat. Der Wechsel hinüber zur Beziehungskonstellation einer anderen Schule ist zumindest anfänglich mit Unkenntnis der dortigen Umgangsformen und Ansprechpartner verbunden. Dadurch besteht die Gefahr, als Lehrer(in) wieder in eine Anfängerrolle hineingezwungen zu werden. Damit verbunden wäre der Einsatz in schwierigen Lerngruppen und wenig Möglichkeiten, diese Situation zu verändern.

Reaktionen auf die sich allmählich entwickelnde neue Situation sind seit den frühen 90er Jahren an der Comenius-Schule nur noch in den dafür zuständigen Schul-Gremien wie dem „Pädagogischen Ausschuss“ möglich. So kommt es dort und in der Schulleitung Anfang des folgenden Jahrzehnts zu Überlegungen über eine Umwandlung der Schule von einer integrierten Gesamtschule weg hin zu einer kooperativen Gesamtschule mit Gymnasialzweig. Mit knapper Mehrheit wird in der zustimmungspflichtigen Gesamtkonferenz der Lehrer(innen) die Umwandlung beschlossen. Das Team-Modell wird dabei stillschweigend aufgegeben.

Seit dem Schuljahr 2002/03 findet der erneute formale Umbau der Comenius-Schule statt, der mit einer schrittweisen Integration in das für Hessen vorgesehene Modell der „Neuen Verwaltungssteuerung“ (NVS) einhergeht. Mit diesem Steuerungsmodell soll das alte „kameralistische“ Modell, das nur eine Aufgabenbeschreibung für Lehrer(innen) und Funktionsträger(innen) vorsah und die Mittelzuweisung durch ausdifferenzierte Hierarchieebenen immer unübersichtlicher machte, durch eine ergebnisorientierte Steuerung ersetzt werden. Lehrer(innen)- und Mittelzuweisungen erfolgen nach diesem Steuerungsmodell auf der Grundlage der im Unterricht erzielten Ergebnisse, die sich als Schüler(innen)leistungen messen lassen (Hochstätter 2003).

Der Prozess der Angleichung an das NVS-Modell ist mit der Anpassung an jeweils neu gesetzte Vorgaben verbunden und geschieht keinesfalls bewusst. Dies sind in den Hauptfächern (Deutsch/ Englisch/ Mathematik) durchzuführende „Vergleichsarbeiten“ in den Jahrgangsstufen 8 und 10 oder Prüfungsszenarien für Abschlussprüfungen in den Jahrgängen 9 (Hauptschule) und 10 (Realschule). Die Prüfungsaufgaben und die Bewertungskriterien hierfür werden zentral erstellt und bilden mit den auf „Bildungsstandards“ aufbauenden neuen Lehrplänen für die übergeordnete Behörde perspektivisch die Möglichkeit die Lehrer(innen)arbeit einer stärkeren Kontrolle zu unterziehen. Darin besteht eine Chance und zugleich eine Gefahr. Eine Chance besteht dann, wenn die Landesregierung in Hessen bereit ist, in den Bildungssektor zu investieren und sich in den Schulaufsichtsbehörden zugleich eine neue, unterstützende Denkweise durchsetzt. Eine Gefahr besteht dann, wenn ohne den Modellwechsel zu berücksichtigen Einsparungen vorgenommen werden und die alten, auf Beibehaltung der Hierarchien von oben nach unten bestehenden Strategien weiterhin zur Anwendung kommen.

An der Comenius-Schule hat sich seit 2002 formal eine Tendenz zu Anpassungsstrategien durchgesetzt, die für die Arbeit der Lehrer(innen) jedoch mit Risiken verbunden ist. Die Glaubwürdigkeit ihrer Arbeit hatte unter solchen Anpassungsstrategien bis zu diesem Zeitpunkt bereits stark gelitten, was sich darin zeigte, dass Eltern wie auch Schüler(innen) bei Unzufriedenheit mit der Handlungsweise einzelner Lehrer(innen) sofort den Direktor informierten, der dann die betroffenen Lehrer(innen) um eine Stellungnahme bat. Problematisch war dabei, dass der Schutz der Schulleitung bei ungerechtfertigten Anschuldigungen nicht selbstverständlich war. Zugleich betrieb sie eine Informationspolitik, mit der sie bestrebt war, die Lehrer(innen) auf Distanz zu halten und ihnen nur die Informationen zukommen zu lassen, die sie veranlassen würden, in ihrem Sinne zu handeln. In der neuen Situation, in der sich Veränderungen abzeichnen, ohne dass deutlich wird in welche Richtung, sind aber alle diese Handlungsschemata in Bewegung geraten und bieten Raum für die Konstituierung einer neuen Schulkonzeption.

Ausblick

Es ist nun eine Übergangssituation entstanden, die wiederum genauer untersucht werden muss. Der Schwerpunkt der Lehrer(innen)arbeit lag in den 80er und noch in den 90er Jahren auf der Herstellung einer emotionalen Balance im sozialen Beziehungsgefüge Schule. Lehrer(innen)-Teams sollten für die Schüler(innen) Anlaufstellen bieten während der vielen persönlichen Krisen des Pubertätsalters und gleichzeitig deren Lernprozesse stabilisieren. Die aktuelle Situation nach der Jahrtausendwende ist geprägt von grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Krisen, die zu einem intensiven Suchen nach Lösungen geführt haben. PISA ist Ausdruck der Globalisierung und Teil der Bemühungen um Vereinheitlichung als Voraussetzung für weltweite Handels- und Produktionsbeziehungen. Vergleichbare Standards soll es nicht nur für die Güterproduktion geben, sondern auch für das Wissen der Individuen, die in Zukunft mit anderen Individuen überall auf der Erde in Verbindung treten können.

Die neuen computergestützten Technologien, welche diese Übergangssituation herbeigeführt haben, öffnen auf neue Weise das Tor zur Welt, zu Phantasien und zu neuen Abstraktionen. Dem gegenüber steht die Welt der Schüler(innen), die kleine Welt des persönlichen Heranwachsens, wo alles zum Greifen nah ist. Sie werden zuerst im Elternhaus, dann verstärkt in der Schule an das allen Individuen Gemeinsame, an die abstrakte Welt der Kultur herangeführt. Kulturträger sind die Medien, zu denen nun die Neuen Technologien hinzugekommen sind. Mit den Neuen Technologien konfrontiert zu werden, bedeutet, sich auf neue Weise unserer Kultur zu nähern und durch ihre Brille andere Kulturen und Wissenswelten kennen zu lernen. Schnittstelle ist der Prozess des Lernens, der in der Schule als systematische Aneignung von Wissen erfolgt, das selbstreflexiv verarbeitet werden soll. Erlernen der Anwendung der neuen Technologien bedeutet somit weitaus mehr als lediglich ein Computerprogramm zu beherrschen.

In der bewussten Adaption der Neuen Technologien könnte für die Lehrer(innen) eine Chance bestehen, Schulen weiterzuentwickeln und auf eine neue Grundlage zu stellen. Über das Internet ist jede Schule automatisch mit der ganzen Welt verbunden. Die Schule bekommt dadurch einen ganz neuen Charakter. Vor diesem Hintergrund der Öffnung zur ganzen Welt müssten Traditionslinien neu gezogen werden. Die Schule als in sich ruhender Gesamtkörper, als Bezugsrahmen für das erzieherische Handeln, was ja das Ideal des Team-Modells gewesen war, müsste neu definiert werden. Nicht mehr als Anhäufung von Lehrer(innen)-Jahrgangsteams, die eine eigene kleine Welt bilden, sondern als Netz von Schüler(innen)-Lerngruppen mit klar definierten Schwerpunktinteressen, die sich weitere Kenntnisse woanders und möglichst schnell und effektiv besorgen müssen. Ältere Schüler(innen) könnten den Lehrer(inne)n zur Seite stehen und weitaus besser erklären, worauf es ankommt als die Lehrer(innen), die den langen Weg der Kulturadaption bereits hinter sich haben und einen anderen Sprach-Code gebrauchen, den die Schüler(innen) erst erlernen müssen. Das Entscheidende für jeden Organisationsentwurf von Schule – auch jeden neuen – ist, dass er zunächst nur eine Vorstellung ist. Erst wenn er in die Vorstellungswelt von all den Menschen vorgedrungen ist, die formal zu dieser Organisation gehören, besteht die Chance, dass er durch ihre realen Handlungen auch wirklich Realität wird.

Auf diese Weise könnten neue, von Schule zu Schule verschiedene Profile gebildet werden und ihre Wirksamkeit müsste selbständig evaluiert werden können. Was die Comenius-Schule betrifft, so droht ihr – noch viel stärker als zu Beginn der 80er Jahre – eine Konkurrenzsituation gegenüber anderen Schulen, die nun nicht mehr als Schulformkonkurrenz der Gesamtschulen zu den Gymnasien besteht, sondern als Konkurrenz zu allen anderen Schulen. Jede Schule muss sich daran messen lassen, inwieweit sie in der Lage ist, die Schüler(innen) auf den fundamentalen technologischen Wandel vorzubereiten, der sich mit der Einführung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) abzeichnet. Für die Comenius-Schule bedeutet dies, dass die früher vorhandene Selbständigkeit des Kollegiums nun wieder gefragt ist.

Zitierte Literatur

Huberman, Michael (1991) Der berufliche Lebenszyklus von Lehrern: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Terhart, E., Unterrichten als Beruf. Neuere amerikanische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen, Köln-Wien: Böhlau, S.249-267

Terhart, Ewald/Czerwenka, Kurt/Ehrich, Karin/Jordan, Frank/Schmidt, Hans-Joachim (1994) Berufsbiographien von Lehrern und Lehrer/innen, Frankfurt/M.-Berlin-Bern: Peter Lang

Hochstätter, Hans-Peter (2003) Forschungsprojekt Bildungssteuerung. Stand und Konsequenzen der Einführung der NVS im Weiterbildungsbereich des Hessischen Kultusministeriums

© 2004 http://www.qualitative-forschung.de/publikationen/schulreform/, Status: 12.6.2004